Erinnerungen an Schulzenhof by Berner Erwin
Autor:Berner, Erwin
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Aufbau Digital
veröffentlicht: 2016-03-15T16:00:00+00:00
21. 8. 2001
Liebwertes Herzchen!
Johannas und meine Fahrt gen Westen führte uns nur bis nach Salzwedel, einer Altmark-Stadt auf einstigem DDR-Gebiet. Jahrhundertealtes Fachwerk und eindrucksvolle Kirchen hielten uns am Ort. Wir waren überrascht, so viele historische Bauten vorzufinden. So hatten wir uns Salzwedel nicht gedacht. Auch hatte ich mir vor langer Zeit geschworen, ich würde die Stadt niemals betreten. Und nun? Nun habe ich verwinkelte Gassen und schöne Plätze vor Augen, sobald ich an Salzwedel denke.
Die unsere Phantasie beflügelnde Historie war das eine, das uns begeisterte. Das andere war die liebevolle Hand der Stadtoberen. Auf Straßen, Plätzen und in Parkanlagen sorgt sie unauffällig für Ordnung. Wir sahen weder besprühte Wände noch Papier auf dem Rasen, noch Bierbüchsen in der Jeetze. Nach der Wende ist auf die Altmark, und besonders auf Salzwedel, viel Geld gekommen. Geld, das sinnvoll verwendet wurde. Fast vermeinten wir durch eine Kleinstadt in den Altbundesländern zu wandern.
Du magst Dich fragen, weshalb ich niemals nach Salzwedel fahren wollte. Die Mutter meines älteren Sohnes stammt aus Salzwedel. Ihren kleinbürgerlichen Ansichten entsprechend dachte ich mir die Stadt als ein Krähwinkel. Das war ein Trugschluß, denn Salzwedel hat stets Wert auf Bildung gelegt. Allein nicht nur die Abneigung gegen’s Kleinbürgertum hielt mich von Salzwedel fern. Ich wollte jene Stadt nicht betreten, in der ein Junge aufwuchs, dem ich nie ein Vater gewesen bin. Eine Schauspielstudentin hatte mich ungewollt dazu gemacht. Es war das erste Mal, daß ich einem Mädchen beilag. Ich tat es nicht, weil mir das Mädchen gefiel, sondern weil ich den Verdacht, schwul zu sein, nicht länger ertrug. Meine Schauspielkommilitonen unterstellten es mir. Sie trieben mich durch anzügliche Fragen in die Enge und zu jenem Beischlaf, der ein Kind zur Folge hatte, weil das Mädchen das Kind wollte. Wohl gelang es mir, mich der Konvention zu verweigern – ich heiratete das eigensinnige Mädchen nicht –, meiner moralischen Schuld konnte ich mich jedoch nicht entziehen. Und deshalb hatte ich Salzwedel niemals sehen wollen. Um nicht der eigenen Unzulänglichkeit zu begegnen.
Die berückenden Bilder von Salzwedel noch vor Augen, fuhren wir am vergangenen Samstag nach Neuruppin. Was für ein Unterschied. Auch die Neuruppiner Stadtoberen ließen Straßen und Gehwege erneuern. Auch hier wurde Fachwerk saniert. Nein, am Geld mangelt es Neuruppin nicht. Neuruppin mangelt es augenscheinlich an der liebevoll ordnenden Hand. Ein Teil der Wallanlage wurde erneuert, der benachbarte Teil ist verwildert. Die Stadtmauer darbt wie in meiner Kindheit in trümmerähnlichem Zustand. Doch ob in Trümmern oder erneuert, überall stößt das Auge auf Unrat. Fast möchte ich sagen, Neuruppin leidet an Liebesentzug. Aber wurde die Stadt je geliebt? – Neuruppin, die preußischste aller preußischen Städte, ist quadratisch und nüchtern angelegt wie ein Schachbrett. Nach dem Brand im Jahr 1787 durfte der preußische Geist beim Wiederaufbau der Stadt zeigen, zu welchem Schematismus er fähig war. Zum Glück wird die Neuruppiner Kargheit und der preußische Kasernismus durch eine ansprechende Umgebung abgemildert. Der Blick vom »Bollwerk« auf den See verheißt zu jeder Jahreszeit Weite und die Hoffnung auf ein anderes Leben. Ich bin gegen Neuruppin selbstredend ungerecht. Das wäre jeder, dem die Stadt in seiner Kindheit so mißfallen hat.
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